Reaktivierung von Traumata durch Medien und Gespräche: Menschen mit Demenz reagieren!

Ein älterer bettlägeriger Bewohner eines Pflegeheims, der unter einer mäßig ausgeprägten Demenz leidet, wird bei der Pflege plötzlich unruhig, beginnt um sich zu schlagen und brüllt: „Die Russen kommen, die Russen kommen“. Er ist nicht zu beruhigen. „Hört ihr die Panzer nicht, die Panzer?“ Der Mitarbeiter sieht aus dem Fenster. Es fährt ein großer dröhnender Lastwagen vorbei. „Keine Angst“, meint er, „es sind die Unsrigen“. Der Bewohner starrt ihn an und beruhigt sich: „Gott sei Dank, dann ist’s in Ordnung“.
Dieses Geräusch dürfte in dem Bewohner eine traumatische Erinnerung ausgelöst und zur Panik geführt haben. Der einfühlsame Einfall des Mitarbeiters führte zur Beruhigung des Bewohners. 

In den Medien wird immer wieder über Kriegsschauplätze berichtet. Sie kommen quasi in unser Wohnzimmer, belasten und „stören“ uns. Unweigerlich beschäftigen wir uns damit. Derzeit wird in fast allen Fernseh- und Radiosendern sowie den Zeitungen fortwährend über den Ukraine-Krieg berichtet. Gerade die schrecklichen Kriegsbilder und Reportagen lassen keinen unberührt. Auch in den Gesprächen ist dieser Krieg Thema. Noch ist die Pandemie allgegenwärtig mit vielfältigen Einschränkungen. Die zahlreichen psychischen und sozialen Beeinträchtigungen sind noch nicht überwunden. Da kommt die nächste Katastrophe.

Wie reagieren alte Menschen? Wie Menschen mit Demenz? Wie deren Angehörige? Wie Mitarbeitende aus der Pflege? Was kann man tun?

Aktivierung eines früheren Traumas

Bei manchem alten Menschen ist es erstaunlich, dass nach einem jahrzehntelangen mehr oder weniger beschwerdefreien Intervall Traumata mit plötzlicher Wucht reaktiviert werden. Sie sind gefangen in einer früheren schweren traumatischen Situation. Dabei geht es weniger um die sachlich erinnerbaren Fakten als vielmehr um die mit diesen Erlebnissen zusammenhängenden Gefühle von Angst, Panik und Hilflosigkeit, einer bedrohlichen oder beängstigenden Situation ausgeliefert zu sein. Unser Unbewusstes ist zeitlos! Erlebtes wird nicht gelöscht, sondern höchstens mit einem hohen psychischen Kraftaufwand verdrängt und abgewehrt. Durch äußere oder innere Reize können traumatische Erlebnisse bzw. die damit verbundenen Gefühle reaktiviert und - wenn auch oft in verzerrter oder unverständlicher Weise - wiedererlebt werden. Diese Phänomene werden diagnostisch als „Posttraumatische Belastungsstörungen“ (PTBS) bezeichnet.

Ein Beispiel: Eine ältere Frau mit einer Demenz hastet über die Flure. Irgendwie ist ihre Unruhe anders als bisher. Sie scheint auf der Flucht zu sein. Ihr Sohn berichtet, dass seine Mutter nie vom Krieg erzählt hat. Aber in der letzten Zeit habe sie angefangen von den Russen zu sprechen und ihrer Flucht.

Im Alter können altersspezifische Faktoren eine Trauma-Reaktivierung begünstigen:

  • Die Menschen haben mehr Zeit, Unbewältigtes wahrzunehmen und sich zu erinnern, da die Lebensanforderungen durch Existenzaufbau, Beruf und Familie wegfallen.
  • Manche nehmen vorbewusst einen Druck wahr, sich noch einer unerledigten Aufgabe stellen zu müssen.
  • Altwerden bedeutet auch das Abnehmen von Fähigkeiten, von Attraktivität, von Bedeutung – dies kann eine (für das eigene Selbstbild) kränkende Erfahrung sein (narzisstische Dimension des Alterungsprozesses).
  • Der Lebensraum ist zunehmend eingeschränkt.
  • Kognitive Prozesse und Funktionen verändern sich, sodass es zu einer Modifikation und (besonders bei Menschen mit Demenz) auch Verzerrung der Trauma-bezogenen Erinnerungen kommen kann.
  • Generell erinnern sich ältere Menschen häufiger an Vergangenes als jüngere.
  • Eine selektive Erinnerung wird als  Erinnerungsstil bevorzugt, zum Teil wird die Lebensphase, in welcher das Trauma geschehen ist, mental „ausgespart“.
  • Die Erinnerungen an das Trauma werden unzusammenhängender (nachlassendes Gedächtnis).
  • Symptome können sich von Trauma-bezogenen Bildern entkoppeln (z.B. bei Albträumen sind Traumata nicht erkennbar).

Menschen mit Demenz sind in zunehmendem Maße kognitiv eingeschränkt und nehmen Reize oft in verzerrter Weise wahr. Sie leben im „Hier und Jetzt“ und sind dadurch besonders gefährdet, frühere traumatische Erlebnisse bei unterschiedlichen Reizen so zu erleben als wären sie aktuell und sehr bedrohlich. Da auch ihre verbale Verständigung zunehmend eingeschränkt ist, können sie sich mit fortschreitender Erkrankung überwiegend nur nonverbal mit Mimik, Gestik und Verhalten äußern, welches für die betreuenden Personen oft nicht nachvollziehbar ist. Dies kann zu Missverständnissen und Beziehungsstörungen bis zu Aggressionen und Gewalthandlungen führen.

Erkennen

Psychische und psychosoziale Verhaltensauffälligkeiten und Störungen sowie funktionelle Störungen und körperliche Erkrankungen, die bei einem alten Menschen festgestellt werden, können auch ursächlich mit früheren belastenden, kränkenden bis traumatisierenden Erfahrungen und Erlebnissen in Verbindung stehen. Hierauf wird derzeit noch zu wenig geachtet. Insbesondere „komische“ und unverständliche Verhaltensweisen (zum Beispiel Aufheben, Anhäufen und Sammeln von Essen oder Gegenständen, übermäßiges Sparen im Alltag, fehlende Rücksichtnahme auf sich und den Körper, immer bereit zum Aufbruch zu sein, Schwierigkeit zu trauern, misstrauische Einstellung zur Umwelt) sind gut erkennbare Symptome, die auf eine PTBS hinweisen können. Diese sind häufig bei Menschen mit Demenz zu finden.

Weitere Hinweise können zum Beispiel sein:

  • auffällige Komorbidität (Depression, Angst, Somatisierung, Sucht, Dissoziation),
  • unklare therapieresistente Schmerzsyndrome (z.B. anhaltende körperliche Schmerzzustände),
  • misstrauische und feindselige Verhaltensmuster (z.B. bei Persönlichkeitsstörungen)
  • unerklärliche Ängste oder Schreckhaftigkeit vor bestimmten Geräuschen, Gegenständen, Situationen, Personen
  • nicht nachvollziehbares Vermeiden von bestimmten Situationen, Räumen und Personen.

Psychotische Inhalte, die bei Menschen mit Demenz auftreten, können mögliche PTBS-Symptome sein und sollten hinsichtlich möglicher Bezüge zu den traumatisierenden Ereignissen überprüft werden. Solche Wahnvorstellungen und Halluzinationen geben nicht nur wichtige diagnostische Hinweise, sondern ermöglichen auch ein tieferes Verständnis für die Not und die traumatische Erlebniswelt des Erkrankten, wenn man das Gehörte in den biographischen Kontext einzuordnen weiß. Einige Beispiele: „Wer weiß, wo die mich hin verschleppen“, „Die wollen mich an die Luft setzen. Die wollen mich kaltmachen“, „Aber ich darf ja nicht ruhen, ich bin ja heimatlos“.

Umgangsweisen und Hilfen

Ein Großteil der Angehörigen und der Pflegemitarbeitenden im ambulanten und stationären Bereich werden mit reaktivierten Traumata von alten Menschen im Arbeitsalltag konfrontiert. Ausgelöst durch den Ukraine-Krieg haben diese Begegnungen erheblich zugenommen. Im Pflegealltag erleben Mitarbeitende auch bei Pflegebedürftigen die Rückkehr von Erinnerungen sehr eindrucksvoll. Gerade bei den Menschen, die unter einer Demenz mit zunehmender Tendenz leiden, aber auch bei denjenigen, die Verluste zu verkraften hatten, verdichten sich nicht aufgearbeitete Erlebnisse oft zu sehr schmerzhaften Erinnerungen. Angehörige und Mitarbeitende sind selbst durch das für sie erschreckende und fremde Verhalten von Pflegebedürftigen betroffen und dadurch häufig sehr irritiert. Manche Pflegekräfte sind vor einiger Zeit selbst vor Kriegen geflüchtet.

In der akuten Phase können folgende stützende Maßnahmen hilfreich sein:

  • Die betroffene Person anschauen, ihre Mimik, Gestik und ihr Verhalten aufmerksam beobachten und auf sich wirken lassen.
  • Die aktuelle Situation erfassen und die Angst, Panik und Verzweiflung des Betroffenen mit-fühlen.
  • Nicht sofort durch Reden und Handeln unterbrechen und reagieren, sondern sich eigener Angst, Panik und Ohnmacht bewusstwerden; Abstand gewinnen, Ruhe bewahren (mehrmals durchatmen, 21/22 zählen, Augen kurzfristig schließen) und nicht mit beruhigenden oberflächlichen Floskeln (z.B. „Du bist ja nicht im Krieg“, „Das ist doch nicht so schlimm“, „Jetzt trink erst mal “) reagieren.
  • Eigene Gefühle, zum Beispiel von Hilflosigkeit und Ohnmacht, fühlen und sich von dem Entsetzen abgrenzen und sich nicht anstecken lassen.
  • Auf die Schilderung eingehen und beschreiben lassen (Gefühle, damalige Situation u.a.) oder durch einen akut angstreduzierenden Einfall (s. Beispiel) stoppen.
  • Geborgenheitsgefühle und Vertrauen vermitteln, soweit gestattet Hände streicheln, in den Arm nehmen, beruhigende Worte (langsam, freundlich und behutsam) finden, Blickkontakt halten und dies durch Mimik, Gestik und Verhalten verstärken.
  • Verbal und nonverbal zeigen und empfinden lassen, dass die betroffene Person nicht allein ist, sondern Unterstützung hat und sie schützt.
  • Sich als Angehörige nicht scheuen, um Hilfe zu bitten.
  • Als Pflegekraft Unterstützung holen.

Nach der akuten Situation sollte man überlegen, wie man auslösende Faktoren (z.B. Fernsehsendungen, Zeitungen oder Gespräche mit Kriegsinhalten) verringern und welche Umgangsweisen man in Zukunft bei einer ähnlichen akuten Situation einsetzen könnte. Hilfreich ist, dies mit allen Mitarbeitenden oder Angehörigen zu besprechen und Fachleute einzubeziehen.
Förderlich kann für Menschen mit Demenz sein, ihre Emotionen durch Malen oder Musik (z.B. bekannte Lieder singen) auszudrücken. Dieser schöpferische Akt kann auch tröstende Wirkung haben. Bewegung (vielleicht auch Tanzen), körperliches Ausagieren, kann das Spüren eigener Kräfte verstärken und zur Verringerung von innerer Unruhe und Spannung führen. Auch humorvolle Angebote können durchaus sinnvoll sein.
Möglicherweise können Medikamente in unterschiedlicher Dosierung zur Verringerung von Angst, Panik und Schlafstörungen (Albtraum) hilfreich sein. Rat kann man sich bei Trauma-Ambulanzen, die einen Schwerpunkt in der Gerontopsychiatrie haben, einholen oder als Angehörige eine Selbsthilfegruppe (Alzheimer-Angehörigengruppe) aufsuchen. Gerade Angehörige stehen oft hilflos und ohnmächtig einer oder einem Betroffenen gegenüber. Sie können sich manchmal von den angstbesetzten Schilderungen der Pflegebedürftigen nicht lösen und sind selbst Opfer. Mitleid allein nützt dabei nicht viel. Angehörige durch fachpflegerische Hilfen zu unterstützen, manchmal auch mit dem Rat, eine Psychiaterin oder einen Psychiater oder Psychotherapeuten zu aufzusuchen, fördert eine adäquate und angstreduzierte Umgangsweise mit den Betroffenen.
Wichtig ist, auch an sich selbst zu denken, zum Beispiel Kontakte zu Freundinnen, Freunden und Bekannten weiter zu pflegen, Freizeitaktivitäten und bisherige eigene Aktivitäten nicht zu vernachlässigen und regionale Hilfen anzunehmen, um nicht zu vereinsamen und sich zu isolieren. Selbstgefährdet ist man, wenn man sich nur für die Erkrankten aufopfert, sie zum Inhalt des eigenen Lebens macht. Dies nützt  Angehörigen und Erkrankten wenig! Eine psychosoziale Beratung oder Psychotherapie kann hier förderlich sein, da zum Teil auch alte eigene Konflikte aufbrechen können und der Bearbeitung bedürfen. Ist bei einem akuten Ausbruch einer Reaktivierung eines Traumas die kognitive Störung noch nicht zu weit fortgeschritten, kann eine Trauma-Therapie erfolgsversprechend sein. Das Alter und/oder eine mäßig ausgeprägte kognitive Störung allein sind hierbei keine Kontraindikationen.

Hilfreich sind auch die Arbeiten und Hinweise von „Alter und Trauma“ (www.alterundtrauma.de). Insbesondere kann auf die Zusammenstellung von „Traumafolgen im Alter: Fragen von Angehörigen“ hingewiesen werden.
Auch der Leitfaden für Pflegende „Der Einfluss von Kriegserinnerungen auf die Praxis" gibt viele Hinweise zum Umgang mit retraumatisierten alten Menschen.

Für die Pflege bedarf es eines erweiterten Pflegekonzeptes, welches die psychohistorische Sichtweise in den Alltag integriert und damit vielfältige Formen des herausfordernden Verhaltens verstehbar macht und Möglichkeiten zu einer sensiblen und kreativen Pflege der Betroffenen und seiner Angehörigen aufzeigt. Erfahrungsgemäß verändert sich die Umgangsweise mit einem kranken und pflegebedürftigen Menschen, wenn man erfährt, was er im Krieg oder in der Nachkriegszeit erlebt hat. Das Verständnis für sein Tun und das Interesse, ihn zu stützen und seine Lebensqualität zu fördern, wird größer.

Prof. Dr. Dr. med. Rolf-Dieter Hirsch, Gerontopsychiater